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AutorenbildRahel Schelb

Eigene Spuren hinterlassen

Die Erfahrung, selbst wirksam sein zu können, prägt den Umgang mit zukünftigen Herausforderungen. Kinder sollen nicht denselben, von jemandem vorgegeben Weg gehen, sondern ihre eigene Spur hinterlassen auf unserer Welt.


Brav schaut sie mich an, die Holzkuh. Seit dem Schnitzkurs steht sie auf meinem Schreibtisch. Steht da mit einer Glocke, einem Edelweisshalsband, mit vier gleich langen Beinen, stimmigen Proportionen – klar erkennbar als Kuh. Sie schaut genauso aus wie alle andern. Halt so wie auch diese Holzkühe zum Verkauf im Spielwarengeschäft aussehen.


Wieso beschleichen mich gemischte Gefühle, wenn ich meine Kuh betrachte? Weshalb kann ich mich nicht so recht freuen über meine Schnitzfigur? Ich hatte die Gelegenheit, mich für einmal wieder in die Schülerrolle zu begeben. Der Kursleiter hat uns bei der Hand genommen, hat jeden Zug genau vorgegeben. Gezeigt, wo das Schnitzmesser anzusetzen ist, welcher Schnitt zu diesen markanten Hüftknochen und zu dem sympathischen Kuhgesicht führt – und wenn ein Schnitt mal danebengegangen war, hat er ihn selbst im Handumdrehen für uns korrigiert, so dass die Kuh nun exakt gleich aussieht wie die Kuh aus dem Spielwarengeschäft.



Da steht also eine annähernd perfekte Kuh auf meinem Schreibtisch. Was bitte schön soll daran nicht gelungen sein? Weshalb also meine zwiespältigen Gefühle? Ohne die exakte Vorgabe des Kursleiters würde meine Kuh wohl ganz anders aussehen. Vielleicht wären ihre Hüftknochen nicht so perfekt parallel. Vielleicht wäre ihr Gesicht nicht auf den ersten Blick als das einer Kuh erkennbar. Aber: Es wäre meine persönliche Kuh. Meine Kuh, die ich selbst geschnitzt habe. Unperfekt, mit Ecken und Kanten. Es wäre sichtbar, dass ich nicht schon tausend Kühe geschnitzt habe in meinem Leben. Und dass ich noch viel dazu lernen kann. Dafür wäre es meine Handschrift, die sich in der Kuh zeigen würde. Und ich bin mir sicher:


Es hätte mich weiter gebracht, wenn ich meine eigenen Erfahrungen hätte machen dürfen statt einfach stumpf den Anweisungen des Kursleiters zu folgen und jeden Schnitt genau nachzuahmen.

Ich gebe zu: Ab und an empfinde ich es verlockend, etwas einfach ganz genau nach Anleitung zu machen, ohne den Kopf selbst einschalten zu müssen. Nachhaltig gespeichert in meinem Gehirn bleibt dann jedoch wenig.


Wie können unsere Kinder und Jugendlichen ihre eigenen Erfahrungen machen und ihre persönliche Handschrift entwickeln?

Meine geschnitzte Holzkuh hat mich zum Nachdenken gebracht: Was, wenn diese Erfahrung nicht nur ich als Schülerin mache, sondern auch unsere Kinder im Unterricht, wenn das selber Mitdenken und -handeln nicht gefragt ist? Und was, wenn das weder den Kindern noch der heutigen Welt dient? Wie können unsere Kinder und Jugendlichen ihre eigenen Erfahrungen machen und ihre persönliche Handschrift entwickeln? Und wie können wir sie darin unterstützen, so dass sie sich zu eigenständig denkenden Persönlichkeiten entwickeln und das in ihnen schlummernde Entwicklungspotenzial entfalten können?




Könnte der Schlüssel darin liegen, unsere Kinder bei der Hand zu nehmen, ihnen Orientierung, Leitplanken und Freiraum gleichzeitig zu geben?

Wenn uns das gelingt, so glaube ich, können Kinder aufblühen und sich entfalten. Das ist es, was ich mir wünsche, als Lehrerin und als Mutter.


Und um beim Beispiel der Holzkuh zu bleiben, könnte dies konkret bedeuten, dass wir uns mit unseren Kindern hinsetzen und ihnen auch zuhören. Dass wir ihnen den Umgang mit dem scharfen Schnitzmesser genau vorgeben und ihnen beim Schnitzen Hilfestellungen geben, aber auch eigene Erfahrungen ermöglichen. Dass sie erleben, dass auch ihre Überlegungen gefragt sind. Dass sie ihren Gedanken nachspüren und ihre eigenen Ideen einbringen können. So dass ihre geschnitzte Kuh am Ende nicht nur unsere, sondern auch ihre eigene Handschrift trägt.


Kinder lernen leichter, wenn sie ihre eigenen Erfahrungen machen dürfen.

Und dabei wird nicht nur eine Fertigkeit gelernt, sondern noch etwas anderes Bedeutendes: Selbstwirksamkeit. Lassen wir es zu, dass Kinder selbst ausprobieren dürfen, erleben sie Selbstwirksamkeit. Sie erfahren also, dass sie selbst etwas bewirken können. Und übrigens: Wir Erwachsenen sind nicht dafür verantwortlich, dass unsere Kinder keine Fehler machen. Aber wir sind dafür verantwortlich, ihnen Fehler zu ermöglichen. Weil sie sonst nicht lernen können.


Dürfen Kinder eigene Erfahrungen machen, erleben sie, dass sie selbst die Fähigkeit haben, Dinge zu erreichen und ihr Leben selbst gestalten zu können. Sie erleben das Gefühl, wenn sie etwas zu ersten Mal ganz aus sich selbst geschafft haben. Der Neurowissenschaftler Prof. Dr. med. Joachim Bauer betont die Wichtigkeit von Selbstwirksamkeit: «Die Erfahrung, selbst wirksam sein zu können, prägt auch den Umgang mit zukünftigen Herausforderungen.» Kinder lernen, dass sie selber Situationen beeinflussen können.

«Die Erfahrung, selbst wirksam sein zu können, prägt auch den Umgang mit zukünftigen Herausforderungen.»


Vor dem Fenster fallen die Schneeflocken. Über Nacht hat sich die Welt in eine weisse Märchenlandschaft verwandelt. Durch den Schnee ziehen sich verschiedenste Spuren. Ganz unterschiedliche: Grosse tiefe Trittsiegel, kleine filigrane Spuren, geradlinige Linien, verspielte Wege. Dasselbe wünsche ich mir für unsere Kinder. Dass nicht alle denselben, von jemandem vorgegeben Weg gehen, sondern dass jedes Kind seine eigene Spur hinterlassen darf auf unserer Welt.

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