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AutorenbildDaniel Hunziker

Was, wenn der IQ sinkt, die Lernziele aber gleich bleiben?

Seit den 1990er-Jahren sinkt der durchschnittliche Intelligenzquotient in den Industrieländern. Trotzdem bleiben die Hürden, die Schülerinnen und Schüler überwinden müssen, gleich hoch. Braucht es mehr Ressourcen und Unterstützung an den Schulen oder müssen die Messlatten gesenkt werden?


Der US-amerikanische Politologe und Professor James R. Flynn publizierte 1987 im Psychological Bulletin der American Psychological Association einen Bericht, in dem er IQ-Tests aus 14 Industrienationen seit 1904 sammelte und die Entwicklung dokumentierte. Dabei stellte er fest, dass in dieser Zeitspanne der durchschnittliche IQ pro Generation um 5 - 25 Punkte zunahm. Als Gründe werden bessere Ernährung, Bildung, medizinische Versorgung und auch Umwelteinflüsse angegeben. Die Tendenz des steigenden IQ`s im 20. Jahrhundert wird seither als Flynn-Effekt bezeichnet.

Seit den1990er Jahren stagniert nun der Anstieg des durchschnittlichen IQ`s, seit 2013 ist die Entwicklung sogar leicht rückläufig. Als Grund sehen Experten, wie Jakob Pietschnig, Intelligenzforscher an der Universität Wien, eine zunehmende Spezialisierung: „Während spezielle, einzelne Fähigkeiten stärker gefördert werden, nehmen andere nicht den gleichen Raum in Anspruch wie früher. Wir haben vor 100 Jahren scheinbar balanciertere Fähigkeiten gehabt, also von allen Formen. Heutzutage ist es wichtiger, in einzelnen Facetten besonders hohe Fähigkeiten zu besitzen“. Werden also einzelne spezialisierte Fähigkeiten erreicht, ist bei diesen irgendwann eine Obergrenze erreicht. Werden andere Aspekte dagegen vernachlässigt, sinkt der individuelle IQ gesamthaft.


Lutz Jäncke, Professor für Neuropsychologie an der Universität Zürich, sieht weitere Gründe bei der Digitalisierung und ergänzt in einem Interview mit der Aargauer Zeitung: "Wenn Sie die Fertigkeiten wie Konzentration oder Selbstdisziplin nicht trainieren, kann es durchaus sein, dass Sie weniger gut bei einem #Intelligenztest abschneiden." Und weiter:

Ein grosses Problem des Internets ist die Flut von Reizen, die uns vom fokussierten Denken ablenkt.

In rechtspopulistischen Kreisen wird die Migration als Grund für den Rückgang des durchschnittlichen Intelligenzquotienten ins Feld geführt. Jakob Pietschnig, Psychologe am Institut für Angewandte Psychologie der Universität Wien, hat diese Hypothese untersucht, konnte sie jedoch nicht bestätigen (Fachblatt Politische Psychologie 6. Jahrgang Heft 2-2018)


Aus eigener Beobachtung an unzähligen Schulen möchte ich hinzufügen, dass sich immer mehr Lehrpersonen, Logopädinnen und Therapeutinnen über die Zunahme von Spracherwerbsstörungen bei Kindergartenkindern, aber auch GrundschülerInnen beklagen, so wie über eine enorme #Heterogenität in Jahrgangsklassen, was die #Reifeentwicklung, die individuellen Lernvoraussetzungen, die Fähigkeit sich zu konzentrieren und sozial in eine Gemeinschaft zu integrieren betrifft.


Was tut man, wenn die Beine immer kürzer werden, das Hindernis aber gleich hoch bleibt. Oder anders gefragt: Was tun Schulen, wenn das durchschnittliche Leistungsvermögen der SuS sinkt, die Anforderungen an die Kinder und Jugendlichen aber gleich bleiben?

Wie üblich kommt die Standardlösung zum Zuge, die da lautet: Mehr vom Gleichen! Konkret sollen noch mehr #Heilpädagoginnen, mehr #Klassenassistenten, mehr Seniorinnen im Klassenzimmer helfen unsere "Schulsportler" trotz zu kurzer Beine über die Klassenlernziel-Hindernisse zu puschen. Dazu braucht es natürlich noch mehr Abklärungen, noch mehr Therapien, noch mehr interdisziplinäre Gespräche und noch mehr Berichte, Protokolle und Förderpläne. Und weil man immer weniger dafür ausgebildetes Fachpersonal findet, müssen all diese Arbeiten zunehmend auch noch die #Klassenlehrpersonen übernehmen - notabene bei gleichen Ressourcen. Bleibt die Frage, wie lange es noch dauert, bis man auch nicht mehr ausreichend viele, fähige und noch nicht ausgebrannte Lehrpersonen finden wird?


Was ist zu tun?


Es gibt drei Möglichkeiten:

  1. Schulische Jahrgangsziele werden nach unten korrigiert, so dass die ganze Fördermaschinerie wieder heruntergefahren werden kann. Ein solcher Schritt müsste mit den Nachfolgestufen abgesprochen und mit den #Eltern diskutiert und etabliert werden. Gleichzeitig braucht es eine Auseinandersetzung, was getan werden muss, damit personale und soziale Kompetenzen als Voraussetzungen für effektive Lernprozesse gestärkt werden können - auch in Zusammenarbeit mit den Elternhäusern.

  2. Noch besser werden #Lernziele individuell, entsprechend der #Reifeentwicklung der einzelnen Schülerinnen und Schüler angepasst. Klassenlernziele würden damit hinfällig. Herausfordernd dabei wäre, ein Know-How zu entwickeln, wie Lernen auf individualisierte Art und Weise in Gruppen organisiert, begutachtet und dokumentiert werden kann. Auch müsste ein solcher Schritt gut begründet kommuniziert werden - vor allem Eltern gegenüber.

  3. Man lässt alles - vor allem die Lernziele und die Zeitpunkte, wann diese erreicht werden müssen - beim Alten. Immer mehr Kinder und Jugendliche würden über- oder unterfordert und immer mehr Klassen- und Fachlehrpersonen am Anschlag sein - dies trotz steigender Anzahl Hilfspersonal an den Schulen. Dies ist bestimmt der effektivste Weg die Schulen so rasch wie möglich an die Wand zu fahren - wahrscheinlich auch der kostspieligste.


Die heilige Kuh "gleiche #Klassenlernziele für alle jahrgangsgleichen Kinder und Jugendlicher", muss enttabuisiert und zum Diskussionsthema werden. Schülerinnen und Schüler, deren Lernziele angepasst werden, erhalten heute einen Sonderschulstatus. Es muss eine Haltung angestrebt werden, dass #Unterschiedlichkeit normal ist und dass individuelle Lernziele zum Standard werden können ohne dass Kinder und Jugendliche als #Sonderschüler gelten und ohne dass eine bombastische Bürokratie ins Rollen kommen muss.


Das Messen von #Intelligenz plus die Art der Lernzielsetzungen sollten überdacht und angepasst werden. Statisches Wissen ist das, was im Zuge der #Digitalisierung Maschinen inzwischen besser verarbeiten können als Menschen. Immer mehr machen wir uns diese Tatsache ja auch zu nutze, in dem wir Wissen auf unseren digitalen Geräten abrufen oder unseren Orientierungssinn an Navigationsgeräte abgeben. Das muss grundsätzlich nicht schlecht sein, es ist einfach eine Folge der Digitalisierung. Womöglich sind es neue Aspekte, die Intelligenz in Zukunft ausmachen, wie Zusammenhänge verstehen, Vorhaben planen, etwas kreativ gestalten können, komplexe Zusammenhänge erkennen, Empathie und ethisch Wertvorstellungen entwickeln oder in Teams co-kreativ zusammenarbeiten können.



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1 Comment


Heinz Etter
Heinz Etter
Mar 07, 2020

Hier ein Versuch die Sache aus vertrauenspädagogischer Sicht oder auch aus bindungspsychologischer Sicht zu betrachten.

Kinder lernen von Menschen, zu denen sie VERTRAUENSVOLL AUFSCHAUEN. Wenn diese Beziehung da ist, ist es - fast - gleichgültig, in welcher Form dieses Lernen stattfindet und welche Methoden und Hilfsmittel eingesetzt werden. Es findet unweigerlich statt.

Das ist die Quintessenz meines langen Lebens als Lehrer, Heimleiter, Heilpädagoge und schliesslich als Coach für Eltern und Lehrkräfte.

Unsere Schulen sind indes voll von Alpha-Kindern, die weder zu den Lehrpersonen aufschauen, noch zu ihren Eltern.

Aufzuschauen passt nicht in unseren Zeitgeist schon gar nicht zum schweizerischen. Deshalb fällt es uns vielleicht nicht auf.

Und wer will denn jemand sein, zu dem man aufschaut?! So schauen wir denn…

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