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AutorenbildDaniel Hunziker

Mit Soziokratie zu mehr Mitbestimmung in der Schule und in der Familie

Morgenstress: Ein bekanntes Phänomen für Eltern mit kleinen Kindern. «Iss dein Sandwich!» «Zieh deine Schuhe an!» «Beeile dich, sonst kommst du zu spät!» sind Beispiele, die wir alle kennen. Eines Tages beschloss Sarah Höner, das nicht mehr zu tun. Dies hatte erhebliche Konsequenzen.



«Mein älterer Sohn muss um halb neun in der Schule sein», sagt Sarah Höner (39). «Das hat uns beide jeden Morgen gestresst. Ich musste Seamus, der 6 Jahre alt ist, die ganze Zeit hinterherlaufen, um pünktlich zu sein. Ich war erschöpft, bevor der Tag richtig begonnen hat.»


Sarahs jüngerer Sohn Luuk besucht De School, eine soziokratisch organisierte Grundschule in den Niederlanden. Hier entscheiden Kinder ab dem vierten Lebensjahr erfolgreich über ihre eigene Entwicklung mit. Sie arbeiten in einer soziokratischen Entscheidungsstruktur, gemeinsam mit den Lehrer*innen.


Doch was heisst eigentlich «soziokratisch»?

Soziokratie ist ein praxiserprobtes Entscheidungs- und Organisationsmodell, um Selbstorganisation effizient umzusetzen.

Dafür werden verschiedene Methoden genutzt und kombiniert. Das Konsentprinzip (über die Grundsätze eines Kreises wird im Konsent entschieden), das Prinzip der Kreisorganisation (eine Organisation wird aufgebaut mit Hilfe von verschiedenen Kreisen), das Prinzip der doppelten Kopplung (die verschiedenen Kreise sind sowohl durch Botton-Up als auch durch Top-Down Steuerungen miteinander verbunden) und die soziokratische Wahl (alle Funktionsträger*innen werden offen gewählt). Mehr Verbundenheit, Verantwortungsübernahme und bessere Lösungen sind das Ergebnis.[1]


Soziokratie kann grundsätzlich überall angewandt werden, wo sich Menschen gemeinsam organisieren: in Quartierversammlungen, Firmen, NGOs oder eben auch in Schulen und Familien. In der Grundschule De School gibt es zum Beispiel Kreisversammlungen und offene Wahlen und Entscheidungen werden im Konsent getroffen – im Klassenzimmer, Lehrer*innenzimmer und im Vorstand.


Um herauszufinden, wie man diese Methoden auch zu Hause nutzt, hat De School in Zusammenarbeit mit demSociocratisch Centrum Nederland das Seminar «Jede Stimme zählt» für interessierte Eltern angeboten. Auch Sarah Höner hat am Seminar teilgenommen. Die Schulung zum Thema Soziokratie und Elternschaft brachte sie auf die Idee, das Thema «Morgenstress» mal anders anzugehen. Weniger «tu dies» und «tu das». Und mehr Verantwortung für ihren Sohn. Sie sagt:

«Eines Tages habe ich einfach losgelassen.»

Das Ergebnis: Seamus war zehn Minuten zu spät. Der Lehrer fragte, ob er verschlafen habe. «Er hat sich geschämt», sagt Sarah Höner. «Seitdem hat er am Morgen nicht mehr getrödelt. Ich glaube, weil er die Konsequenzen seiner eigenen Entscheidungen gespürt hat und sie ihm nicht gefielen.»

Was genau hat Sarah Höner anders gemacht? Sie machte ihren Sohn mitverantwortlich für die Pünktlichkeit. Sie gab ihm Unabhängigkeit. Dadurch lernte er mehr, als wenn sie ihm sagte, was er zu tun hatte, und ihr gemeinsames Morgenritual wurde sehr viel weniger stressig.

«Das Seminar hat mich auf die Idee gebracht», sagt sie. «Das war ein Augenöffner. Ich habe gemerkt, dass ich als Elternteil ziemlich direktiv bin. Das führt bei den Kindern zu Frustration. Kraft erzeugt Widerstand. Jetzt denke ich: Wir müssen uns zusammensetzen und Vereinbarungen treffen.»


Kampf um die Bildschirmzeit

Das Thema Bildschirmzeit ist in vielen Familien ein heisses Thema, so auch in der von Jan-Willem te Gussinklo (44). Auch er hat das Seminar besucht. «Wenn unsere Tochter ferngesehen hat», sagt er, «haben meine Freundin oder ich irgendwann gesagt: Das war's. Sarah, sie ist 7, wollte immer noch länger schauen und wir führten immer wieder dieselbe Diskussion. Es war schrecklich ermüdend.»

In einem ruhigen Moment begannen sie darüber zu sprechen. «Es stellte sich heraus, dass Sarah nicht verstand, wie lange sie fernsehen konnte», sagt Te Gussinklo. «Es war jedes Mal anders. Wie lange hielten wir alle für angemessen? Wir haben uns für eine halbe Stunde pro Tag und eineinhalb Stunden pro Tag am Wochenende entschieden.» Es funktioniert gut. Te Gussinklo und seine Freundin haben auch eine Vereinbarung getroffen: Sie verbringen unter der Woche weniger Zeit am Handy.


Wo zieht man die Grenze?

Können Sie mit Ihren Kindern wirklich alles soziokratisch entscheiden? Kann ein Kleinkind allein mit dem Fahrrad durch den dichten Verkehr zum Strand fahren? Kann die Tochter ohne Schwimmflossen ins Meer gehen, wenn sie noch nicht gut schwimmen kann? Jan-Willem te Gussinklo:

«Wo zieht man als Elternteil die Grenze?

Darüber wurde im Seminar viel diskutiert.»

Wichtig dabei ist: Sie legen diese Grenze gemeinsam fest. Das bedeutet nicht, dass Ihr Kind alle Freiheiten hat und Sie als Erwachsener nur zuschauen. Die Argumente der Eltern sind genauso wertvoll wie die des Nachwuchses.


Mehr Frieden durch andere Vereinbarungen

Sarah Höner: «Man hört oft, dass Kinder nicht wissen, was gut für sie ist. Es stimmt, dass sie Dinge wie die Sicherheit nicht immer beurteilen können. Oder was gesund zu essen ist. Aber sie wissen auf ihre Weise, was gut für sie ist. Dank dem Seminar höre ich ihnen mehr zu.»

Auch Jan-Willem te Gussinklo fand Griffe für eine «weniger direktive» Art der Erziehung: «Wir wollten vom Gehorsam zum Bewusstsein übergehen. Jeden Sonntagmorgen, der ruhigsten Zeit der Woche, finden jetzt in der Familie Kreisversammlungen statt. Sarah möchte sie so kurz wie möglich halten, also gehen sie nur 20 Minuten. Te Gussinklo: «Die Treffen sind ein sicherer Ort zum Reden.» Die gemeinsame Beratung hat einer Reihe von immer wiederkehrenden Diskussionen und Streitereien ein Ende gesetzt.


«Eltern und Kinder sind gleichwertig, aber nicht gleich.»

Für Sarah Höner hatte das Seminar eine grosse Wirkung. «Ich hatte nicht erwartet, dass es mich so verändert», sagt sie. «Es half mir zu verstehen, wie die Dinge mit einem Kind funktionieren. Dass man als Elternteil und Kind zwar gleichwertig, aber nicht gleich ist, das war eine echte Erkenntnis. Wenn Sie Ihre Kinder als gleichberechtigt betrachten und ihre Argumente ernst nehmen, wächst ihr Selbstvertrauen.»



Interview: Rosanne Maters ist Direktorin der soziokratisch organisierten Grundschule De School. Sie erzählt, warum sie auch die Eltern «unterrichten» wollte.


Warum haben Sie das Seminar «Jede Stimme zählt» angeboten?

Die Eltern sind die einzigen an unserer Schule, die nicht täglich mit Soziokratie zu tun haben. Sie wissen oft nicht, was ihr Kind bereits weiss: wie man gemeinsam Entscheidungen trifft und Verantwortung trägt. Das fanden wir schade, deshalb das Seminar. Natürlich hätten wir auch nur die Grundregeln erklären können. Aber wenn man es mit der Erziehung verbindet, kommt man der Realität am nächsten.


Es wurde also auch zu einer Schulung in Sachen Erziehung?

Ja. Aber eben anders. In vielen Schulungen werden Schritt-für-Schritt-Pläne angeboten, die jedoch nicht unbedingt auf Sie und Ihre Familie anwendbar sind. Das Besondere hier war, dass den Eltern Instrumente an die Hand gegeben wurden, mit denen sie ihre eigenen Vereinbarungen in ihrer Familie treffen konnten. In der Soziokratie muss man nicht einer Erziehungsschablone folgen, sondern trifft massgeschneiderte Vereinbarungen, die zu Ihnen und Ihren Kindern passen.


Gibt es wirklich eine Brücke zwischen Schule und zu Hause?

Ich habe beobachtet, wie die Brücke direkt von der Schule nach Hause führte. Ich hoffe, dass die Eltern weiterhin die Soziokratie nutzen werden. Und wir werden das Seminar erneut durchführen. Es wäre schön, wenn wir noch mehr Eltern damit vertraut machen könnten.


Haben Sie sonst noch etwas gelernt?

Die Gründung eines Familien-Kreises ist ziemlich schwierig, vor allem, wenn Sie Kinder unterschiedlichen Alters haben. Teenager haben keine Lust dazu, kleine Kinder können sich noch nicht richtig ausdrücken. Aber der Leiter des Seminars, Pieter van der Meché, erzählte uns, dass er bei sich zu Hause einfach angefangen hat, auch wenn seine Jüngste keine Lust dazu hatte. Sie konnte mitmachen, wenn sie wollte. Beim ersten Mal hat sie dann trotzdem mitgemacht, weil es um das Taschengeld ihrer älteren Schwester ging. Das fand sie auch für sich selbst interessant. Also: einfach anfangen und schauen, wer mitmachen will.


(Ãœbersetzter und leicht modifizierter Artikel von TSG Sociocratisch Centrum Nederland)


Veranstaltungshinweis:

Wollen Sie mehr zum Thema Soziokratie und Schule erfahren? Besuchen Sie unser Webinar Mitbestimmung in der Schule und Familie am 9. September 17:00 – 18:30 und stellen Sie Ihre Fragen!


[1]Mehr Informationen über die Funktionsweise von Soziokratie finden Sie auch im aktuellen Reader «Soziokratisch Arbeiten» unter https://thesociocracygroup.ch

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